Romane, Erzählungen, Lyrik

 
 

Das Land mit seinen Kindern. Ein Nachtbrief. So weicht das Land zurück von meinem Schiff, das aufs Meer des Alters hinausfährt. Das Land mit seinen Kindern. (Virginia Woolf am 6. Mai 1940)

»Die Person, die ich einmal war, wer ist sie heute? Ist sie eine andere als das Kind, das Mädchen, die junge Frau, die sie heute war und damals gewesen sein wird? Was denkt sie von mir? Es sind ja diese Fragen, die ich in meinem Maschinenraum bearbeite; die an mir arbeiten; die mich seekrank machen. Die mich an Deck getrieben haben, um Luft zu holen; den Horizont zu suchen; an dich zu schreiben.«

Das Land mit seinen Kindern. Ein Nachtbrief, Arco Verlag, Wien 2021, 100 S., ISBN 978-3-96587-023-9

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Kirschenzeit. Das Licht des August zeichnet scharfe Schatten. Sommertag heißt das Bild von Böcklin, das die Reise zu einem anderen Bild begleitet: nach Colmar zu den Schreckensbildern des Isenheimer Altars, dem Horror von Kreuzigung und Auferstehung. Wer reist? Eine Frau, mal Reisende, mal Mutter; ihre Tochter, deren Name Licht bedeutet; die Erzählung selbst; und der Rückblick auf andere Reisen, eine vergessene an denselben Ort, eine gemeinsame auf eine Sommerinsel. Und überall kehren die Nachbilder wieder, hier das tote Fleisch, da die Erlösung – beim eau de vie und dem Lied von Liebe und Widerstand: Le temps des cerises.

Kirschenzeit, Verlag Faber & Faber, Leipzig 2019, 112 S., ISBN 978-3-86730-136-7

Bücher überleben ihre Autoren, ihre Verlage. Und mit ihnen die möglichen Verfälschungen: falsche oder lückenhafte Übersetzungen, Druckfehler, unautorisierte Eingriffe in den Text. Und die Leser, heutige und zukünftige? Wenn sie den Fehler erkennen, fehlt ihnen die Originalversion. Wenn nicht, umso schlimmer: Text und Lektüre, beide sind beschädigt. Je feiner das Gewebe, umso mehr zerstört eine kleine Flickschusterei. So auch hier:

Achtung! Errata →

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Sommer in Dresden. Ein Dresdner Sommer von den Erdbeeren bis zu den Pflaumen. In Hamburg steigt und sinkt die Elbe, in Dresden fließt sie. Deshalb das Gedicht. Langzeilen durchmessen die Stadt und ihre Zeit auf Bahnen von Wasser, Granit, Asphalt, Ufergras. »Dresden, gleich weit entfernt von Wissen und Nichtwissen«. Die Syntax der Stadtteile, der Klang der Namen, die Grammatik von Erinnerung und Vergessen, der Rhythmus von Auf- und Abbau wollen gelesen, gehört und gesehen werden, aber die Risse bleiben offen und das Fremde fremd. »Vermeide Bedeutungen!«

Sommer in Dresden, Ein Gedicht, Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2017

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Termini. Roma, città aperta. Eine Stadt mit freiliegenden Knochen. Die Ardeatinischen Höhlen. Ein Mann mit müdem Herzen. Drei, vier, fünf Arten von Exil. Eine totgeglaubte Lebende und viele Tote, die nicht sterben können. Lesbare Gemälde. Wer legt das »wahre« Zeugnis ab, der Journalist, der Evangelist, die Schriftstellerin, der Wahrsager mit den Tarotkarten? Die Reise folgt der falschen Spur und findet die richtige – hinein in die Unterwelt. Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate! Heute erkenne ich die Schreibanstrengung wieder, die der letzte Höllenkreis gekostet hat. Kann man das Dunkel farbig schildern? Ich zweifle. Aber was war, das ist und zählt.  

Termini, Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2009,  315 S., ISBN 978-3-608-93660-5

 

Harzreise. Wer Bilder beschreibt, begibt sich in die Kluft zwischen Karte und Gebiet und wiederholt die Differenz – und damit die Beziehung – zwischen Beschreibung und Gegenstand. In dieser Erzählung stellt ein Bild die Hauptfigur dar, das Bild einer sommerlichen Landschaft, in der der Vater zu Hause war: »Ich habe das alte Landschaftsbild zu mir nach Norden geholt. In meinem Zimmer sitze ich ihm gegenüber. Sprich, sage ich, rede! Es ist Winter.« In dem Bild sucht die Erzählende den toten Vater. Das Ergebnis der Beschreibung ist das, was die Beschreibung nicht ist. Und das Heimweh danach.

Harzreise, Erzählung, Weissbooks, Frankfurt am Main 2008, 109 S., ISBN 978-3-940888-31-0

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Guantánamo. Ort und Name sind beliebig; nicht beliebig ist die Verbindung von Insel, Meer, Eidechsen, McDonald’s und den Käfigen, die später Container werden. Während des Forschens nach dem unbekannten Gefängnis, ja noch beim Zuendeschreiben klang der Name »Guantánamo« nach Blüte, Schmetterling, Lied von der Guantanaméra. Als das Buch erschien, war das Wort schon zum Begriff versteinert und begrub die Erinnerung daran, dass es ein Vorher gegeben hatte. In diesem Vorher, unbehelligt vom medialen Bescheidwissen, war Platz für den Versuch, hinter die geschlossenen Türen zu schauen: »Die Geschichte, die ich erzähle, handelt von der Gefangenschaft. Diese Freiheit nimmt sich meine Phantasie, und es ist ihr eine Hilfe, dabei an die Wirklichkeit gebunden zu sein.«  

Guantánamo – Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 158 S., ISBN 978-3-608-93599-8

 

Damen & Herren. Der frühere Titel – Das Johnny-Hartmann-Projekt – hätte besser gepasst. Nach zwanzig Jahren sehen sie sich wieder, 17 Personen; plus 1 Kellner. Nur der kleine Messias Johnny, der das Ganze ausgeheckt hat, lässt auf sich warten, und Erdmute hat den Western Spiel mir das Lied vom Tod todernst genommen. Nein, Ich-Marie ist keine Queen, sondern eine schlechte Lyrikerin, die sich (die Wörter, den Körper, gleichviel) prostituiert. Nach zehn Stunden ist es vorbei. Hier, wie in Termini: ein langes, böses Ende. »Wie ein Gedicht«, sagte jemand. Ein anderer schrieb: »Ein lückenlos brillant durchgeschriebener Roman wird abgefertigt mit diesem aschgrauen Showdown, der Damen & Herren nur wie Scheintote überleben lässt« – und Marie, wie man so sagt, dissoziiert. Damals musste es sein. Mit dem zweiten Todeslied: The End von den Doors.   

Damen & Herren, Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 318 S., ISBN 978-3-608-93325-3

 

Belice im Männerland. Brauchte ich den Auftrag von Lewis Carroll? Am Ende von Alice im Wunderland wird Alice von ihrer Schwester aufgeweckt. Sie lässt sich Alices Traumerlebnisse erzählen und schickt sie dann heim (es ist Teezeit), bleibt zurück »und dachte an die kleine Alice und ihre wunderbaren Erlebnisse, bis auch sie auf ihre Weise ins Träumen geriet, und das ist, was sie träumte« ... Das ist also Belice. Ich hänge an Belice. Es ist ein sinistres Buch: einerseits so verrückt, dass es mir beim Schreiben Lachanfälle bescherte. Es bescherte mir zudem einen Verriss, der mit dem Satz anhob: »Mit Männern muss Dorothea Dieckmann böse Erfahrungen gemacht haben.« (Unter Kritikerinnen gibt es genug Kretins). Lange Zeit später entdeckte ich – andererseits – in der Pubertätsgeschichte eine Geschichte der Gewalt. Bücher wissen eben mehr als ihre Verfasser. (Kritiker weniger).

Belice im Männerland, Eine wahre Geschichte, Berlin Verlag, Berlin 1997, 205 S., ISBN 3-8270-0219-2

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Die schwere und die leichte Liebe. Eine symmetrische Konstruktion, ein gleichschenkliges Dreieck, eine Versuchsanordnung, ein Selbstgespräch, ein Protokoll, eine Studie, eine Novelle ohne Falke. Sie wurde innerhalb von drei Sommerwochen auf der Insel Paros jeden Abend ab 22 Uhr draußen im Licht einer Petroleumlampe (sic) mit Kugelschreiber von der Wirklichkeit abgeschrieben – auf Millimeterpapier. Wie eben das Leben manchmal wirklich wird, weil es eine Ordnung zeigt, als wäre es von einem guten Handwerker erschaffen worden.   

Die schwere und die leichte Liebe, Novelle, Berlin Verlag, Berlin 1996, 117 S., ISBN 3-8270-0207-9 / TB Ullstein Verlag 1998, ISBN 3-548-24340-1

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Wie Engel erscheinen. Vielleicht gewinnen erste Bücher, wenn sie gelingen, ihre Schönheit aus der Unschuld. Dieses gilt weiter, geht nicht zuende, könnte weitergeschrieben werden und wird weitergeschrieben, auch wenn ich nicht daran schreibe: eine Studie über geflügelte Existenzen im Zwischenraum (natürlich der Raum der Literatur), deren eine – der Engel des Nachmittags – den Punkt markiert, den ich nicht verlassen darf, wenn mein Schreiben mein Schreiben bleiben will. Oft wünsche ich mir, ich hätte für diese flüchtigen Figuren einen anderen zoologischen Namen gefunden als »Engel«. Noch ist mir keiner eingefallen.   

Wie Engel erscheinen, Prosa, Rotbuch Verlag, Hamburg 1994, 84 S., mit Frottagen von Ludwig Dieckmann, ISBN 3-88022-809-4

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